Deep Talk mit Prof. Christian Berg: Ist Nachhaltigkeit utopisch?


Wir haben ein neues Format! Santa fragt, wichtige Menschen antworten. Beginnen wollen wir mit Nachhaltigkeits-Professor Christian Berg, Autor des sehr lesenswerten Werkes „Ist Nachhaltigkeit utopisch? Wie wir Barrieren überwinden und zukunftsfähig handeln“. Schnell wurde uns klar, bei dieser einen Folge mit ihm wird es nicht bleiben. Ihr könnt also weiterhin gespannt sein. Aber jetzt gilt es erst einmal, darüber zu sinnieren, wie wir „Barrieren überwinden und zukunftsfähig handeln“ können.

Lieber Christian, Du schreibst in Deinem Buch, dass man die 17 SDGs und seine 169 Unterziele nur schwierig bis unmöglich alle gemeinsam erreichen kann, sie einander sogar teilweise ausschließen. Du identifizierst weiterhin, wenn ich Dich richtig verstehe, einen uns im Weg stehenden Ganz-oder-Gar-Nicht Geist, sprich: entweder erreichen wir die SDGs oder nicht. Was impliziert, dass alles, was nicht an die utopischen 100 Prozent gelangt, nichtig wäre. Kannst Du dazu noch etwas mehr ausholen bitte?

CB: Ich weiß nicht, ob die 17 SDGs alle gleichzeitig erreichbar sind – es gibt Studien, die das bezweifeln. Ich glaube, dass niemand mit Sicherheit sagen kann, ob diese Ziele alle miteinander verträglich sind. Zum Beispiel gibt das Nachhaltigkeits-Ziel 8.1 vor, in den am wenigsten entwickelten Ländern ein Wirtschaftswachstum von mindestens 7% zu erzielen. Selbstverständlich müssen die wenig entwickelten Länder noch wachsen – auch in materieller Hinsicht. Die Schwierigkeit besteht allerdings darin, dass unter den gegenwärtigen Rahmenbedingungen die Wirtschaft auf Kosten der Umwelt wächst, und wir eine weitere Belastung unserer Ökosysteme unbedingt vermeiden müssen. Deshalb genügt es eben nicht, die Ziele einzeln zu verfolgen, sondern im Prinzip muss man alle zugleich verfolgen. Kein Mensch kann das aber leisten. Und auch kein Staat kann 169 Ziele gleichzeitig verfolgen.

Absolut einleuchtend! Und dabei drängt sich mir die Frage auf: Wie geht man Deiner Meinung nach pragmatisch, mit Weit- und Tiefblick, mit der Dringlichkeit von Nachhaltigkeit um, ohne den Wald vor lauter Bäumen bzw. SDG (Unter-)Zielen nicht zu übersehen?

CB: Meine Antwort darauf mag zunächst widersprüchlich klingen: wir müssen einerseits Komplexität erhöhen, andererseits aber auch Komplexität reduzieren, Dinge einfacher machen. Zunächst: warum Komplexität erhöhen? Bei der Problemanalyse auf der systemischen Ebene müssen wir zunächst sehr komplexe Systeme (nämlich die weltweiten öko-sozialen Systeme) analysieren und möglichst gut verstehen. So manch ein sicher gut gemeinter Ratschlag ist unterkomplex – er übersieht, dass die Welt nicht so einfach ist, wie die Lösung vorgibt. Wenn man zum Beispiel Menschen rät, sie sollten keine Kinder mehr bekommen, weil Kinder „das Schlimmste für die Umwelt“ seien, geht man davon aus, Gesellschaften oder Menschen ließen sich steuern wie technische Systeme. Aber so einfach ist es nicht. Vielversprechender ist es, zunächst die ganz unterschiedlichen Gründe zu untersuchen, die dazu führen, dass wir nicht nachhaltiger sind. Diese Gründe nenne ich „Barrieren der Nachhaltigkeit“. Erst, wenn wir diese Barrieren der Nachhaltigkeit möglichst umfassend verstehen, können wir einen systemischen Wandel einleiten. Auf einer anderen Ebene müssen wir aber Komplexität reduzieren – und zwar wenn es um das konkrete Handeln geht. Kennst Du das, Santa, dass Du beim Einkaufen manchmal überwältigt bist von der Vielzahl der Optionen und ständig abwägen möchtest, welches Produkt denn jetzt das bessere ist? Wir dürfen die Akteure nicht überfordern! Im Gegenteil, wir müssen sie unterstützen. Und das versuche ich, indem ich Prinzipien nachhaltigen Handelns vorschlage, die die Komplexität auf der Ebene der Akteure reduzieren, Handeln also einfacher machen.

Oh ja, Christian. Von der Qual der Wahl kann ich Dir ein langes Lied singen. Und bin wirklich froh, dass mein „so nachhaltig wie möglich“-Prinzip, untermauert von Wissen, eine natürliche und viel kleinere Selektion schafft. Erzählst Du uns, was Du konkreter mit den Barrieren von Nachhaltigkeit meinst, gerne mit Beispielen?

CB: Gerne! Gerade weil niemand mit Sicherheit sagen kann, wie wir die nachhaltige Welt wirklich erreichen, schlage ich vor damit anzufangen, das zu unterlassen, von dem wir mit ziemlicher Sicherheit wissen, dass es nicht-nachhaltig ist. Es ist ganz sicher für die Zukunft unserer Kinder und Enkel nicht förderlich, wenn wir die Natur zerstören, wenn wir unsere Gesellschaften immer weiter auseinanderdriften lassen, wenn es immer mehr Ungleichheiten gibt. Dies nenne ich Nachhaltigkeits-Barrieren. Und von solchen Barrieren gibt es eine ganze Menge. Es gibt solche, die liegen in der Natur selbst begründet, letztlich in der Physik – zum Beispiel, dass viele Zusammenhänge komplex sind und nicht vorhersehbar. Andere Barrieren haben mit uns Menschen zu tun: wir tun oft nicht das, was wir eigentlich für richtig halten. Oder wir können uns exponentielle Entwicklungen schwer vorstellen (was wir gerade in Corona-Zeiten schmerzvoll erfahren). Und dann gibt es ganz wichtige Barrieren, die institutioneller Art sind: wie unsere Marktwirtschaft funktioniert, wie unser Rechtssystem, wie der Staat – das alles ist nicht durch Naturgesetze festgelegt, sondern dies sind letztlich von uns Menschen gemachte Institutionen. Diese Institutionen sind aber zu einem großen Teil nicht auf Nachhaltigkeit ausgelegt – der Markt bildet Umweltbelastungen nicht richtig ab, der Politik fehlen Steuerungsinstrumente für globale Probleme und das Recht kennt keine Rechte ungeborener Menschen.

Wieder ein großes weites und wichtiges Thema, Christian. Ja, unsere Institutionen sind von uns Menschen gemacht und doch haben sie ihr Eigenleben entwickelt und lassen sich so leicht von uns Menschen nicht mehr ändern. Wie kann man von innen das System um Nachhaltigkeit erweitern, sie integrieren? Ich denke, dass viele unserer Systeme durchaus schon richtige Gedanken enthalten, aber eben noch erweitert werden müssen. Nehmen wir das Verursacherprinzip. Dieses Prinzip bringen wir schon unseren Kindern im Kindergarten bei: wenn man etwas kaputt macht, soll man es wieder heil machen, wenn man jemandem weh tut, soll man sich entschuldigen und sich um Wiedergutmachung bemühen. In vielen Bereichen funktioniert dieses Prinzip sehr gut – aber nicht mit Blick auf die Umwelt. Wer die Umwelt schädigt, muss dafür oft noch nicht angemessen zahlen. Wenn wir also das Verursacherprinzip auch auf die Umwelt anwenden, machen wir nichts ungewöhnliches – im Gegenteil, wir gleichen nur aus, was bisher leider versäumt wurde. Wir bei FindingSustainia sprechen von Sustainia als diesem Zustand zu dem wir streben und den wir nie ganz erreichen können. Ich glaube, Du sprichst über etwas Ähnliches, wenn Du von Nachhaltigkeit als Utopie schreibst. Glaubst Du an dieses utopische System, das weiter und humaner ist, im Sinne von werteorientierter? Einem System, in dem Glück und Zufriedenheit wie auch Ressourceneffizienz und Suffizienz von zentraler Wichtigkeit sind? Und wenn ja, wie kommen wir weiter dahin?

CB: Das ist in der Tat ein ganz ähnlicher Ansatz, den Ihr habt – ich meine FindingSustainia und Eure Vorstellung von Nachhaltigkeit als Utopie. Mich würde interessieren, wie Ihr darauf gekommen seid, dass Sustainia auch nie wirklich erreichbar ist?

Das ist eine sehr gute Frage, Christian. Ich weiß, dass mich das Ziel Nachhaltig-Sein sehr belastete, je mehr ich mich mit der Thematik auseinander setzte und ihre Komplexität begriff bzw. dass ich als Santa da nie komplett hinkommen würde, es sei denn ich würde komplett aus der Gesellschaft aussteigen. Ich entschied mich irgendwann bewusst dafür, mich mehr mit den Prozessen dahin auseinander zu setzen und mich darüber zu definieren. Ich sehe mich jetzt als Santa, die versucht, so nachhaltig wie möglich zu leben, die nach Sustainia sucht und dabei ganz viel lernt, ohne Sustainia jemals komplett erreichen zu müssen. Denn, wenn man den Erfolg eines Individuums oder einer Gesellschaft nur darüber misst, dass Sustainia erreicht wird, so fühlt sich das an wie ein Zustand aus einer griechischen Sage, z.B. Sisyphus, der jeden Tag einen riesigen Stein einen Hügel hochrollt und dieser jeden Tag auch wieder herunter rollt. Deshalb ist es mir auch so wichtig, dass wir uns mehr auf den Prozess konzentrieren. Aus meiner Arbeit mit Individuen und Gruppen erkenne ich auch genau diesen Geist, dieses Gefühl des „Tropfen auf den heißen Stein“, wenn man nicht direkt alles richtig macht. In diesem Sinne stört mich auch dieses kategorische Beschweren über den SUV-Fahrer, der zum Bioladen fährt. Ökologisch bedenkliche Handlungen sind in sich ökologisch bedenklich, und im Umkehrschluss sind für mich ökologisch positive Handlungen auch ökologisch positiv. Jeder Mensch hat mehr oder weniger ökologisch positive wie auch bedenkliche Verhaltensweisen. Dabei finde ich es bedenklich, dass wir uns als Öko oder Nicht-Öko einstufen, denn das macht das Ganze statisch.

CB: Absolut – das sehe ich genauso! Niemand ist perfekt und wir sollten uns auf das Positive konzentrieren anstatt an allem rumzumäkeln, insbesondere wenn es das Verhalten Anderer betrifft… Ich selbst fände es zwar auch komisch und widersprüchlich, mit dem SUV zum Bioladen zu fahren, aber es ist immer noch besser, mit dem SUV zum Ökoladen zu fahren als zum 1-Euro-Shop, wo es nur Ramsch zu kaufen gibt. Manchmal denke ich, dass die Leute, die sich darüber echauffieren, nur einen Grund suchen, ihr eigenes Verhalten nicht zu ändern.

Möchtest Du diese Gedanken etwas weiter spinnen mit mir auf der Meta-Ebene? Wie erreichen wir Deines Erachtens als Gesellschaft ein größeres und menschlicheres Gefühl von Machbarkeit – ohne dabei, wie Du in Deinem Buch beschreibst, die Latte zu niedrig zu hängen, ein Phänomen, das Du bei vielen Politikern identifizierst?

CB: Ich denke, es ist wichtig, die politische und die persönliche Ebene zu unterscheiden. Wir brauchen dringend ambitioniertere und ganzheitliche politische Konzepte für eine öko-soziale Transformation. Natürlich muss man „die Leute mitnehmen“ – wie gerade von Konservativen gerne gesagt wird. Aber dafür muss man sich selbst erst einmal in Bewegung setzen! Es ist ganz dezidiert Aufgabe von Politik, den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Rahmen so zu gestalten, dass das Gemeinwohl geschützt und gestärkt wird und dabei wird es immer wichtiger, auch künftige Gefährdungen zu adressieren. Diese Aufgabe können auch noch so engagierte Bürgerinnen und Bürger nicht übernehmen – das muss politisch geregelt werden. Von der Politik muss man also erwarten, dass sie das große Ganze in den Blick nimmt und das Gemeinwohl schützt und dafür Vorsorge betreibt. Auf der persönlichen Ebene ist es zwar auch wichtig, um die großen Zusammenhänge zu wissen (und die sind leider oft sehr kompliziert und komplex…). Aber es wäre völlig falsch zu denken, dass die Weltprobleme schon gelöst wären, wenn nur alle Menschen die richtigen Dinge kaufen würden und Fahrrad fahren anstatt mit dem Flugzeug zu fliegen. Mit anderen Worten: Moral ist sehr wichtig und kann viel erreichen, aber für die Steuerung in Richtung Nachhaltigkeit darf man nicht zu viel von Moral erwarten.

Ganz unschuldig gefragt: Warum denn nicht? Ist es nicht gut, wenn die Menschen sich an Moral orientieren?

CB: Klar – das ist gut und soll so sein! Aber es gibt 3 Gründe, warum Moral allein nicht genügt. Erstens wird man damit nicht alle Menschen erreichen. Zweitens können zu hohe Erwartungen zu Frustration und Ablehnung führen. Dem hohen Anspruch an sich selbst oder an andere Menschen dauerhaft nicht zu genügen, führt leicht zu Frustration oder Resignation bei den Einen, zu offener Ablehnung bei den Anderen. Und Letztere suchen dann lieber Zuflucht bei Populisten, die ihnen weißmachen wollen, dass alles gar nicht so wild ist… Und drittens löst Moral allein ja nicht die Systemfrage: wir brauchen ganz andere Systeme für Produktion und Konsum, für Transport und Verkehr, für Wohnen und Arbeiten u.v.a.m. – und die würden wir auch dann nicht bekommen, wenn auf einmal alle Menschen moralisch handelten. Es ist ja gerade Aufgabe von Institutionen, das Handeln der Einzelnen zu entlasten und das Miteinander zu vereinfachen. Das hat für viele altbekannte gesellschaftliche Herausforderungen schon sehr gut funktioniert – man denke nur an die Errungenschaften unserer sozialen Marktwirtschaft. Nur müssen wir dies heute erweitern für künftige Herausforderungen und zugleich global denken und nicht nur national.

So ein weites Thema: das Individuum, das freiwillig (hoffentlich) gut handelt in einem System, das „gute“ Handlungen im Sinne von Nudging incentiviert. Hast Du weitere Gedanken zu dem Ganzen – Freiheit oder Zwang, oder eine Kombi? Was sind deiner Meinung nach effektive Weisen, Individuen, den Privatsektor und Staaten nachhaltiger zu gestalten?

CB: Ich bin auch eher skeptisch, wenn es darum geht, den Leuten ein schlechtes Gewissen zu machen. Ich denke allerdings, dass es oft durchaus noch erforderlich ist, aufzuklären und auf die Dringlichkeit unseres Handelns hinzuweisen. Wenn man das macht, kommen die Menschen von alleine ins Nachdenken, das ist meine Erfahrung… Ich denke, wir werden einen Mix von Maßnahmen benötigen („policy mix“) – gesetzliche Vorgaben, positive Anreizstrukturen, einen Markt, der die wahren Kosten abbildet und uns alle als Verbraucher, die wir die richtigen Produkte kaufen, um nur ein paar Beispiele zu nennen.

Aufklärungsbedarf sehe ich auch, und weiß aus meiner eigenen Arbeit, dass Menschen sich, wenn sie tiefer verstehen und sich mehr mit der Thematik identifizieren, automatisch gerne für nachhaltigere Verhaltensweisen entscheiden. Dazu würde ich gerne aus Deinem Buch das Konzept Futeranity aufgreifen – „the Future of Terra and Humanity“, das Du lose ins Deutsche mit „Lebenswohl“ übersetzt. Erzählst Du uns ein wenig mehr davon?

CB: Das hängt eng mit dem vorigen Punkt zusammen. Ich glaube, dass die Überforderung und Resignation, die durch zu hohe Ansprüche an persönliches Verhalten entstehen können, daher rühren, dass „Nachhaltigkeit“ eigentlich so etwas wie eine heile, perfekte Welt beschreibt (und auch politisch oft so aufgeladen wurde, vgl. Agenda 21 oder die SDGs). Gleichzeitig soll aber auch jeder Apfel, den wir essen, jede Bewegung, die wir tun, nachhaltig sein. Das befördert die eben beschriebene Überforderung! Deshalb ist mir die Unterscheidung so wichtig zwischen den Prinzipien, die ich vorschlage (Klimagase vermeiden, Zuammenhalt stärken, Ungleichheiten verringern, Transparenz schaffen, Diversität erhöhen usw.) und den konkreten Maßnahmen, die immer kontextabhängig sind und zu denen stets weiter geforscht und gestritten werden soll (CO2-Steuer oder Emissionshandel mit Mindestpreis?). Letztere erfordern sehr viel Spezialwissen, das die allermeisten gar nicht haben – aber auch nicht zu haben brauchen! Manchmal ist es auch wirklich schwierig einzuschätzen, wie eine bestimmte Maßnahme mit dem Abstand von 10, 20 oder 500 Jahren beurteilt würde. Was gibt es nicht alles für Beispiele von Dingen, die unsere Vorfahren für super klug hielten und die wir heute belächeln oder den Kopf schütteln. Noch vor 15 Jahren dachten viele, Bio-Sprit wäre eine großartige Lösung nicht nur des Energieproblems, sondern auch für den Klimawandel. Heute sehen wir das sehr viel kritischer. Deshalb ist es wichtig Pfadabhängigkeiten, also vor allem Lock-in-Effekte zu vermeiden, die uns über lange Zeit an problematische Technologien oder Systeme binden. Im Sinne des Vorsorgeprinzips sollten wir also zum Beispiel unbedingt vermeiden, planetare Grenzen zu überschreiten. Denn oft wissen wir viel besser, was nicht-nachhaltig ist – die Lebensgrundlagen zu zerstören, kann jedenfalls nicht zukunftsfähig sein. Deshalb ist es immer ein wichtiger und richtiger Schritt, das Nicht-Nachhaltige zu vermeiden.

Und was hat es jetzt mit dem Begriff „Futeranity“ auf sich?

CB: Ich schlage vor, dass wir uns zunächst auf ein Ziel verständigen, das m.E. jeder vernünftige Mensch nachvollziehen können müsste: die Zukunft der Erde und des Menschlichen zu erhalten. Dafür habe ich im Englischen Futeranity vorgeschlagen. Ich habe lange nach einer passenden deutschen Übersetzung gesucht und mich dann schließlich für „Lebenswohl“ entschieden. Denn das umfasst menschliches wie nicht-menschliches, jetziges wie künftiges Leben. Die Vorstellung einer Welt, in der Leben gelingen kann. Sicher, das wäre eine Utopie. Aber eine Utopie, die konkretes Handeln unterstützt. Eine Utopie ist etwas sehr Wertvolles, Schönes – denn sie beschreibt eine gelingende, in gewissem Sinne eine heile Welt. Aber wie bei allen Utopien sollten wir sehr vorsichtig sein zu behaupten, dass wir wüssten, mit welchen Mitteln wir diese Welt verwirklichen können – sonst kann aus dem positiven Leitbild schnell totalitärer Zwang werden. Insofern können wir uns nur auf den Weg machen und uns schrittweise dem Ideal der Nachhaltigkeit annähern. Und so möchte ich auch das Streben nach Nachhaltigkeit verstehen. Ohne einen Anspruch an Letztgültigkeit. Wenn wir jetzt Lebenswohl anstreben und die nachhaltigere Alternative wählen, dann befinden wir uns auf diesem Weg.

Ich liebe den Gedanken der „Utopie, die konkretes Handeln unterstützt.“  Doch wie komme ich dann tatsächlich zum konkreten Handeln? Welche Rolle spielen dabei die von Dir beschriebenen Prinzipien für nachhaltiges Handeln?

CB: Die Prinzipien sind genau dafür da, die Komplexität zu reduzieren und das Handeln zu erleichtern. Ich muss vorweg sagen, dass ich natürlich nicht den Anspruch erhebe, einen vollständigen und fehlerfreien Satz von Prinzipien anzugeben, aber ich glaube, es ist wichtig, dass wir die Akteure im konkreten Handeln unterstützen. Die SDGs helfen leider überhaupt nicht weiter bei der Frage, was ich denn konkret selbst tun kann, um den Hunger in der Welt zu beseitigen. Die Prinzipien sprechen also die Akteure an – wobei ich damit nicht nur individuelle Menschen, sondern auch Unternehmen oder Staaten meine. Wenn ein Akteur zwischen mehreren Optionen wählen muss, dann sollen die Prinzipien helfen, nachhaltigere von weniger nachhaltigen Alternativen unterscheiden zu können. Unter sonst gleichen Bedingungen ist es richtig und wichtig, diejenige Handlungsoption zu wählen, die mit weniger Klimagasen verbunden ist, die den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt, Ungleichheiten verringert, Transparenz schafft und Diversität erhöht.

Was mich hierbei ganz besonders ergreift, ist, dass Du von der Zukunft der Erde, als Lebensgrundlage, wie auch des „Menschlichen“ schreibst. Du sprichst hier nicht nur davon, dass wir als Gattung überleben, sondern gibst besondere Priorität für Werte und Errungenschaften wie „Menschenrechte, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie…“ an. Dazu würde ich liebend gerne mehr hören.

CB: Ich mache mir, ehrlich gesagt, kaum Sorgen um das physische Überleben der Gattung Homo sapiens sapiens (wieso eigentlich sapiens, und dann auch noch gleich zweimal…?). Auch die größten Katastrophen werden sicher irgendwo einige tausend oder sogar Millionen Menschen überleben. Wovor mir allerdings graut ist, was dann vermutlich sonst alles vor die Hunde geht. Alles, was uns heute lieb und teuer ist, was uns als Menschen ausmacht. Wir sehen, dass gerade Krisenzeiten in erschütternder Weise die wahre Identität von Menschen offenbaren. Es tritt sicher auch viel Gutes zutage, viel selbstlose Fürsorge und große persönliche Opfer für andere. Dazu gibt es derzeit eindrückliche Geschichten. Aber es gibt eben auch die dunklen Seiten, die dann wesentlich stärker hervortreten werden. Kurz gesagt: ich glaube, dass das Menschliche, das Humane, wesentlich fragiler ist als das rein physische Überleben. Aber natürlich kann das Humane auch nur Bestand haben, wenn die Gattung überlebt, insofern ist es hier der passendere Begriff.

Auf der Mesa-Ebene – cooles Wort, oder? (mesa = griechisch. drinnen) – kann ich nur bestätigen, dass es der Nachhaltigkeit viel dienlicher wäre, wenn man sich mehr auf das innere Öffnen zu der Thematik, z.B. durch unsere FindingSustainia Challenge-Methodik, konzentriert, als auf das dröge Ziel „Ich will nachhaltig sein“. Beim Öffnen wird der Prozess wichtig. Nicht nur das Ziel. Und dabei erreicht man das Ziel spielerischer und mit einem offeneren Geist. Ich persönlich, aus meiner doch mittlerweile langjährigen Erfahrung kann sagen, dass man am Ende viel nachhaltiger und dazu glücklicher ist, wenn man gleichzeitig versucht und spielt UND Perfektionismus-Ideale aufgibt. Von dir möchte ich sehr gerne mehr zur Meta-Ebene hören: ist Futeranity die Meta-Ebene von dem, was ich gerade auf individueller Ebene beschreibe? Kannst Du meine Gedanken und Frage weiter aufgreifen und weiter spielen?

CB: Ich glaube, das trifft es ziemlich gut! Denn, wenn ich FindingSustainia richtig verstehe, geht es ja einerseits um konkrete Schritte, die ich hier und heute tun kann. Das ist sozusagen die praktische Konkretion dessen, was ich als Prinzip nachhaltigen Handelns allgemeiner auszudrücken versuche. Dann geht es ja auch darum, dass ich bei mir anfangen muss. Es geht Euch ja nicht darum, dass jede und jeder andere beurteilen soll…! Sondern jeder soll vor seiner Tür kehren und die Dinge, die er oder sie für richtig hält, umsetzen. Und den Perfektionismus aufgeben, ist, glaub ich, das, was ich mit der „Überforderung“ durch moralische Ansprüche meine. Es ist wie beim Keller-Aufräumen. Weil es sooo viel ist, fängt man gar nicht erst an, denn man meint, ja nur scheitern zu können. Das ist letztlich lebensfeindlich. Und noch etwas finde ich wichtig: wir müssen verstehen, dass nachhaltiges Handeln auch eingeübt werden muss. Auch vieles anderes, was das Leben gut und schön macht, muss geübt werden – das gilt für Lesen und Schreiben ebenso wie für Musik, Kunst, Sport und vieles mehr.

Das kann ich nur unterschreiben, lieber Christian! Nachhaltiges Handeln muss und kann eingeübt werden – und macht ganz besonders viel Spass, nebenbei bemerkt. Psychologen raten, sich eher auf den Prozess zu konzentrieren und nicht auf das „utopische“ Ziel: Sustainia. Der Weg ist das Ziel. Ich freue mich auf unseren nächsten Chat! Was schlägst Du als nächstes Thema vor, Christian?

CB: Wie wäre es, wenn wir uns mit dem Problem beschäftigen, dass wir oft nicht wirklich tun, was wir eigentlich für richtig halten? Das ist für mich eine der Barrieren der Nachhaltigkeit, die mit der menschlichen Natur zusammenhängen.

Lieber Christian, I am in. Ich bin gespannt. Und Ihr könnt es auch sein. Sagt uns bitte auch gerne, was Euch persönlich immer wieder davon abhält, nachhaltiger zu handeln? Christian, ich und das gesamte FindingSustainia Team freuen uns auf Euren Input!

Foto: Melvin Berg

Christian Berg gehört zum deutschen Präsidium des Club of Rome, hält Vorträge und lehrt an verschiedenen Hochschulen. Er war verantwortlich für die Arbeitsgruppe „Nachhaltiges Wirtschaften und Wachstum“ im Rahmen des von Angela Merkel initiierten Zukunftsdialogs und in der Managementberatung bei SAP für das Thema Nachhaltigkeit zuständig.

Ausgehend von der Frage, was die Welt im Innersten zusammenhält, hat Christian Berg zunächst Physik und Philosophie studiert, später noch Theologie. Über eine Dissertation zum Verhältnis von Theologie und Naturwissenschaft ist er zu der Frage gelangt, wie wir verantwortungsvoll mit der Schöpfung umgehen und Technik entsprechend einsetzen – der Anlass für eine weitere, diesmal ingenieurwissenschaftliche Promotion.

Weitere Infos und jede Menge Interaktion findet ihr auf unserer  Facebookseite “Finding Sustainia“ und bei Twitter unter @Finding_S.

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2 Antworten zu “Deep Talk mit Prof. Christian Berg: Ist Nachhaltigkeit utopisch?”

  1. Die 3 Gründe, warum Moral nicht genügt, gefallen mir am Besten. Zeigt sich auch in der aktuellen Krise an allen Ecken und Enden. Prinzipien sind eine gute Idee.
    Aber was sind jetzt genau die Barrieren, um nachhaltiger im Alltag zu handeln? Dazu könntet Ihr Euch nochmal treffen.

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