Michael Adler: Ich will eine andere Stadt – nicht nur einen besseren Radweg von A nach B


Was ich ganz besonders an meiner Arbeit liebe? Mit Experten zu plaudern und sie mit meinen persönlichen Fragen zu löchern. Heute freue ich mich besonders, Euch im Rahmen unserer #GoetheFSEcoChallenge rund um Mobilität ein Interview mit Michael Adler, tippingpoints Geschäftsführer und Autor des Buches „Generation Mietwagen: Die neue Lust an einer anderen Mobilität“, zu präsentieren.

Von Santa Meyer-Nandi

Noch drei Punkte zu Michael und wie er dazu kam, sich so intensiv dem Thema Mobilität zu widmen:

  1. Michael ist in einem Dorf in Baden-Württemberg groß geworden.
  2. Er ist ein Mann aus der Baby-Boomer Generation, was heißt, dass er „als Kind mit Matchbox Autos spielte, immer brumm, brumm, mit 18 Führerschein und dann nix wie raus aus dem Dorf, und das immer mit dem Auto. Autos waren Freiheit und Abenteuer.“
  3. Mit Mitte 20 begann seine Resozialisierung. Waldsterben, Rio-Gipfel 1992 waren „tippingpoints“ in seiner Biografie. Dann war er 22 Jahre lang Chefredakteur des VCD-Mitgliedermagazins fairkehr. 2012 hat er seine eigene Agentur tippingpoints gegründet. Weil er überzeugt ist, „dass eine bessere Welt verdammt gute Kommunikation braucht. Nicht nur in der Mobilität, aber hier besonders, haben wir uns einen zerstörerischen Lebensstil angeeignet, der das Klima, unsere Atemluft, unsere Lebensräume, unsere Freiheit ruiniert. Da diese Kultur aber sehr stark auf Emotionen, Bequemlichkeit und Routinen gründet, kann sie auch durch emotionale Kommunikation verändert werden. Daran arbeiten wir bei tippingpoints.“

An dieser Stelle erst einmal ein großes MERCI an Michael, der sich viel Zeit für uns genommen hat. Und jetzt, bevor Ihr ungeduldig werdet, kommen wir direkt zu den Fragen.

Lieber Michael, wenn Dir eine Mobilitäts-Zauberfee alle Träume erfüllen würde, wie würden urbane und ländliche Mobilität und Reisen für Dich aussehen?

Das Mobilitäts-Feen-Menü sieht so aus:
Man nehme Radfahren wie in den Niederlanden, Bahn- und Busfahren wie in der Schweiz, nur noch 10 Prozent der Autos von heute, die elektrisch und autonom sicher die Lücken schließen, die Rad- und ÖV-Netze lassen. Der öffentliche Raum wird grüner, kühler, leiser, menschengerechter. Man trifft sich wieder auf dem Dorfplatz, der eben kein Parkplatz mehr ist. Das funktioniert auf dem Dorf genauso wie in der Metropole. Reisen funktioniert in Europa super mit einem vernetzten internationalen Eurail Bahnsystem, mit schnellen Tagverbindungen und komfortablen Nachtzügen, die Paris mit Berlin, Kopenhagen mit Mailand, Amsterdam mit Wien und Köln mit Barcelona verbinden. Ein bisschen Feenstaub brauchen wir noch für: E-Mobilität mit 100 Prozent erneuerbarem Strom. Batterien, die kaum knappe Rohstoffe brauchen. Solar oder mit Wind erzeugter Wasserstoff und Brennstoffzellen oder ebenso erzeugte synthetische Kraftstoffe betreiben Züge, LKW, Busse und Flugzeuge.

Volksinitiative Aufbruch Fahrrad | Foto: Michael Adler

Etwas ausführlicher: Autos, wie wir sie heute kennen, sind aus unserem Alltag fast verschwunden. Wir sind mit 10 Prozent der Fahrzeuge genauso mobil wie heute. Wir gehen doppelt so oft zu Fuß oder fahren mit dem Rad. Wir fahren komfortabel doppelt so viel mit Bus und Bahnen. Wir besitzen kein Auto mehr, wir leihen es nur noch. Fangen wir mit dem Land an. Wie in der Schweiz ist der öffentliche Verkehr zuverlässig auch in ländlichen Gebieten im Stundentakt unterwegs. Kleine autonome Elektrobusse fahren auf den letzten Meilen. Der Schienenverkehr wurde ausgebaut bis in alle ländlichen Mittel- und Unterzentren. Die Batterietechnik funktioniert mit Material aus Meerwasser, wie grade von IBM kolportiert. Keine Schwermetall- oder Lithiumförderung in Bolivien, Zentralafrika oder China ist mehr nötig. Das Radnetz ist auf einem Topstand. Es ist teilweise überdacht und mit bewegungsempfindlicher LED-Beleuchtung ausgestattet. ÖV-Haltestellen sind Mobilitätsstationen, wo geliehene oder eigene Fahrräder sicher geparkt werden können. Kleine Elektroautos können dort auch geliehen werden. Auch sie fahren autonom. Wenn sie mich in meinem Dorf abgeliefert haben, fahren sie automatisch weiter zum nächsten Auftrag oder zur nächsten Mobilitätsstation. Die Dorfkerne sind wieder belebt. Die Dinge, die man alltäglich braucht, kann man sicher ohne eigenes Auto besorgen. Der Nahverkehr der Bahn ist reibungslos vernetzt mit dem Fernverkehr. Der Fernverkehr ist nur noch maximal 200 km/h schnell, auf Pünktlichkeit und Anschluss optimiert. Damit fahren wir in die Stadt. Die Städte sind zu 95 Prozent autofrei. Der freiwerdende Platz wurde begrünt und für Fußgänger- und Radfahrerbedürfnisse umgestaltet. Kinder bewegen sich autonom mit dem Fahrrad oder zu Fuß. Alte Menschen ebenso. Das Geld, das bisher für die Auto-Infrastruktur und die negativen Folgen des Autoverkehrs ausgegeben werden musste, steht jetzt für die Gestaltung der öffentlichen Räume zur Verfügung. Die Straßenräume wurden komplett umgebaut. Von der Häuserwand her gedacht: Zuerst die Menschen, die zu Fuß gehen, dann Radverkehr mit Raum für Lastenräder und überdachte Elektromodelle, dann öffentlicher Verkehr und, wo dann noch Platz ist, für eine verbleibende Spur „Auto“verkehr, der aber in Städten und Dörfern mit dem Öffentlichen Personennahverkehr verschmilzt. Die Stadt wird wieder zum Treffpunkt für Menschen. Alle motorisierten Vehikel werden mit regenerativ erzeugtem Strom bewegt.

Was macht Mobilität nachhaltig für Dich?

Jedes Kind braucht ein Fahrrad | Foto: Michael Adler

Dreimal null: Null CO2, null Luftschadstoffe und Lärm, null Tote und Verletzte. Wir sollten auch in der Mobilität in einem geschlossenen Kreislauf von Ressourcen und Energie denken. Circular Mobility, wenn Du so willst. Ein zwei Tonnen schweres Auto in Privatbesitz ist das Gegenteil von nachhaltig, Es steht 23 Stunden am Tag rum, fährt mit fossilem Treibstoff, der unter ungerechten sozialen Bedingungen gefördert wird, der schon bei der Förderung die Umwelt zerstört, um dann mit Krach, krankmachenden Abgasen und einem viel zu hohen Treibhauseffekt 75 Kilo Mensch mit Sitzheizung zu bewegen.

Bleiben wir beim Thema nachhaltige Autos. Welche Modelle (elektrisch, hydrogen, solar) stufst Du als besonders zukunftsträchtig ein?

Solarautos gibt es nicht und wird es auch in absehbarer Zeit nicht geben. Du kannst allerdings auf der Fläche eines Carports in Mitteleuropa so viel Strom ernten, dass es im Mittel für 25-30 Kilometer Autofahren reicht. Ob das der effizienteste Einsatz des erneuerbaren Stroms ist, darüber ließe sich trefflich streiten.

Ich besitze derzeit noch einen zehn Jahre alten Hybrid von Toyota. Und überlege, ob ich den gegen ein Elektroauto von eGo, der Kleinwagenfabrik aus Aachen, eintausche. Der eGo zeigt exemplarisch wie E-Mobilität derzeit nur Sinn macht. Ein leichter Kleinwagen mit 100 bis 180 Kilometer Reichweite. Auch dieser elektrisch betriebene Kleinwagen ist allerdings nur dann ein Fortschritt, wenn er mit 100 Prozent erneuerbarem Strom betrieben wird. Noch besser wäre es, private Autos komplett abzuschaffen. Dazu müsste es in Bonn aber ein halbwegs funktionierendes Car-Sharing und einen halbwegs funktionierenden ÖPNV (Öffentlicher Personennahverkehr, Anm. d. Red.) geben. Beides ist aus meiner Sicht nicht der Fall.

Während VW jetzt mit gleicher Dogmatik wie vorher auf Diesel jetzt auf Batterie-elektrische Autos setzt, baut Toyota, der schärfste Konkurrent von VW, auf Wasserstoff und Brennstoffzelle. Vorteil: Man kann Wasserstoff schnell tanken und weit damit fahren. Nachteil: Man muss Wasserstoff mit erneuerbarem Strom aus H2O, Wasser, abspalten und dann an Bord aus dem Wasserstoff mit Hilfe einer Brennstoffzelle wieder Strom erzeugen, der dann den E-Motor antreibt. Doppelte Energieumwandlung ist doppelter Energieverlust. Wirkungsgrad laut Öko-Institut e.V. 25 Prozent. Batterie 70 Prozent. Und Wasserstofftankstellen gibt es noch viel weniger als Batterieladesäulen.

In meiner Arbeit sehe ich viele Zusammenhänge zwischen Lebensqualität und Nachhaltigkeit. Siehst Du eine Beziehung zwischen nachhaltiger Mobilität und Wohlbefinden und Gesundheit von Individuen? Was sind die Vorzüge von nachhaltiger Mobilität im gesamtgesellschaftlichen Kontext?

Wir bewegen uns zu wenig. Das ist ungesund. Körperlich und emotional. Kinder wollen sich bewegen. Und dann werden sie auf die Rücksitze von Autos gefesselt und mit Smartphones ruhig gestellt. Körperliche Aktivität macht nicht nur schlanker, sondern auch glücklicher. Rein biochemisch, weil bei Bewegung Glückshormone wie Serotonin oder Dopamin ausgeschüttet werden, aber auch sozial. Wir begegnen Menschen, wir lernen unsere Umgebung besser kennen, wir erfassen unsere Stadt oder unser Dorf mit unseren Sinnen. Wir riechen, hören, fühlen und sehen unsere Stadt, unser Dorf intensiver. Und, eine menschengerechte Stadt oder ein Dorf ist sozialer, nicht so anonym wie die autogerechte Siedlung, wo die Autostraße die Menschen voneinander trennt. In einigen französischen Vorstädten hat eine Belebung des öffentlichen Raumes auch zur Verringerung von Kriminalität geführt. (Quelle: Walk 21 in München) Was mich nicht verwundert.

Welche Städte oder Projekte gehen für Dich jetzt schon in die richtige Richtung? Und wo stufst Du Deutschland und Frankreich ein? Was fehlt Dir hier noch?

Deutschland und Frankreich hängen zu sehr mental an der Autoindustrie. Staat und Autoindustrie bilden in beiden Ländern ein sehr enges Lobbysystem. Die Folge ist, dass in beiden Ländern die herkömmliche Autoindustrie zu sehr mit Subventionen gepampert wird.

Auch, wenn es schon ein bisschen langweilig wird, man muss immer wieder die gleichen Vorbilder nennen. Kopenhagen will bis 2025 klimaneutral werden. Und schafft das wohl auch, weil heute schon mehr als die Hälfte aller Pendlerwege mit dem Fahrrad zurückgelegt werden. Utrecht hat in diesem Sommer das größte Fahrradparkhaus der Welt eröffnet. Es bietet Platz für 12.500 Fahrräder. Bis zu 24 Stunden ist das sogar kostenlos. Ich habe das nicht überprüft, aber ich wage die Behauptung, dass alle rund 100 deutschen Fahrradparkhäuser zusammen, nur gut die doppelte Menge an Fahrrädern fassen, wie das eine in Utrecht. Pro Kopf und Jahr gibt die niederländische Stadt über 100 Euro für ihre Fahrradförderung aus. In Deutschland kommen die besten Städte auf 10-20 Euro, die meisten unter 5 Euro. Wien hat verstanden, dass das Fahrrad die Stadt verändert. „Cycling is the city changer“, so brachte Maria Vassilakou als Vizebürgermeisterin 2013 bei der velocity in Wien ihr Credo auf den Punkt. Ein anderes Projekt war die Begegnungszone in der Mariahilfer Straße, das Vassilakou gegen erbitterten Widerstand der politischen Gegner durchsetzte. Und das passiert in einer Stadt, die stabil gut 40 Prozent aller Wege mit dem ÖPNV zurücklegt. Hilfreich hierbei das 365 Euro Ticket für den ÖV in Wien und vor allem auch um Wien. Das auch in Schaltjahren wie 2020 nur 365 Euro kostet. So werden viele Pendler umgelenkt. Zürich hat sich per Volksentscheid verpflichtet zu einer 2000-Watt-Stadt zu werden. Das wäre die Energiemenge, die ein Mensch für die Einhaltung des 2-Grad-Ziels nur noch in Anspruch nehmen dürfte. Helsinki ist mit „Mobility as a service“ am weitesten, was die Digitalisierung der Verkehrswende angeht. Und dabei geht es eben nicht zuerst um das total vernetzte Auto in Privatbesitz. Es geht vielmehr um die optimierte Information und Buchbarkeit der Alternativen zum privaten Auto. Mit der App Whim, was so viel heißt, wie „nach Lust und Laune“, kann man jede Mobilität in der finnischen Hauptstadt einfach finden und buchen. Abgerechnet wird mit Flatrates, die bei 49 Euro pro Monat für das ÖV-Abo plus einem kleinen Kontingent an Bike-Sharing beginnen. Die teuerste Rate kostet 500 Euro im Monat und es sind alle Leihauto-, Taxi- und sonstige Mobilitätsdienstleistungen inkludiert.

Bemerkenswert ist, dass Zürich, Kopenhagen und Wien immer auf den ersten Plätzen liegen, wenn es um die lebenswertesten Städte geht.

Zur Ehrenrettung muss man auch in Deutschland und Frankreich auf die kommunale Ebene gehen. Anne Hidalgo, die amtierende Bürgermeisterin von Paris, krempelt die Stadt schon gewaltig um. Buchstäblich über Nacht werden Autospuren zu Fahrradhighways. Der Plan Velo sieht eine Verdoppelung der Radwege in Paris auf 1400 Kilometer für 2020 vor. Die Verleihsysteme Velib und Autolib sind zu Vorbildern für andere Metropolen geworden. Der ÖPNV wird massiv ausgebaut. Ab 2030 soll kein Auto mit Verbrennungsmotor mehr in die französische Hauptstadt einfahren. Madame Hidalgo will Paris wirklich verändern: „Mein Kampf richtet sich nicht gegen das Auto, sondern gegen die Verschmutzung“, erklärt sie.

Lyon, Bordeaux, Straßburg haben schon früh ihre Straßenbahnen modernisiert und jetzt nach und nach auch das Fahrrad gepusht.

Der Lauf-Radweg, erfunden von Norbert Krause, ist ein mobiler Fahrradweg von 50m Länge, um Lücken im Netz zu schließen. | Foto: Michael Adler

Und in Deutschland: Karlsruhe hat von 2006 bis heute den Radanteil von 15 Prozent auf 27 fast verdoppelt, zulasten des Autoverkehrs. Das ÖPNV-System der badischen Metropole, das die Straßenbahn auf Bahnschienen weit ins ländliche Umfeld fahren lässt, ist vorbildlich. Heidelberg schafft schon über 50 Prozent aller Wege zu Fuß und mit dem Rad. Und dann gibt es noch die guten im Norden: Oldenburg mit 35 Prozent Radanteil, Bremen mit über 25 Prozent und Berlin, das in den Kernbezirken wie Kreuzberg-Friedrichshain, Prenzlauer Berg und Teilen von Pankow nur noch unter 20 Prozent Autoverkehr für die innerstädtische Mobilität braucht.

Dennoch: Zu den Vorbildern wie Kopenhagen, Zürich, Wien oder Utrecht fehlt in Deutschland meistens eine entscheidende Zutat – politischer Wille.

Stichwort: Motivation, Emotionen und Angst. In meinem Auftakt-Artikel spreche ich davon, wie schlecht sich Pendelverkehr, insbesondere für Autofahrer auf unseren Gemütszustand und auf das Immunsystem auswirken. Warum hängen wir Deutschen Deiner Meinung nach trotzdem so sehr an unseren Autos? Wie kann man unsere Motivation ankurbeln, Mobilität umzudenken?

Wir Deutsche hängen so sehr an unseren Autos, weil wir es immer so gemacht haben. Zumindest gilt das für die letzten 50-60 Jahre, also gefühlt schon immer. Nichts ist so stark wie eine Routine, eine Sucht. Autofahren ist eine Sucht. Es tut Dir nicht gut, Du weißt es eigentlich, aber Du tust alles, damit Du es weiter tun darfst. Harald Welzer und Klaus Leggewie haben in einem schon zehn Jahre alten Buch geschrieben: Die Deutschen sind automobil. In ihrem Denken, ihrer ganzen Sozialisation und Geisteshaltung.

Und wie mit Zigaretten, Alkohol oder Süßigkeiten, so ist auch die Autoentwöhnung ein harter Entzug. Wir machen in unserer Agentur immer wieder lokale Kampagnen für den Umstieg. Du musst die Zielgruppe in ihrem Verhalten irritieren, ihr testweise Alternativangebote machen. Sie muss nach der alten Werberegel „do, feel, learn“ eine andere Mobilität ausprobieren, fühlen, dass das gut ist und im besten Fall daraus eine neue Routine machen.

Eine kleine Geschichte dazu: Wir hatten in Bonn eine Sperrung der Südbrücke, das ist die Zufahrtsautobahn zum Post-Tower und zur Telekom. Ich begegnete an einem sonnigen Maimorgen einem Anzugträger auf dem Radweg am Rhein. Er hatte sichtlich gute Laune. Ich rief ihm zu: „Schon Luxus, dass wir hier am Rhein mit dem Rad zur Arbeit fahren können!“ Er rief zurück: „Ich mach das seit diese Baustelle auf der Brücke da ist. Aber es tut mir so gut, dass ich das danach weitermache.“

Gerald Hüther, der Neurobiologe hat eine klare Haltung zur Verhaltensänderung: „Der Mensch lernt nur durch Erfahrung und Emotion.“

Wie kann ich als Individuum zu nachhaltiger Mobilität beitragen und dabei mein Leben optimieren? Und was fehlt Dir noch auf nationaler, europäischer wie auch internationaler Ebene?

Als Individuum bist Du jederzeit frei, Dich anders zu entscheiden. Und auf nationaler Ebene fehlt mir fast alles.

Zuerst zum Individuum. Menschen sind bequem. Deshalb tun sie das, was sie gut kennen und das, wofür es gute Rahmenbedingungen gibt. Da wir dem Auto den roten Teppich ausgerollt haben in unseren Städten und Dörfern, ist es bequem, Auto zu fahren. Wenn auf dem Dorf nur alle drei Stunden ein Bus fährt, oder in der Stadt Radfahrer auf schmalen Radwegen zwischen Fußgängern und parkenden Autos durchgezwängt werden, dann ist das unbequem. Richard Thaler, der Nobelpreisträger für Verhaltensökonomie, nennt diese Rahmenbedingungen, die individuelles Verhalten begünstigen oder verhindern, „Entscheidungsarchitektur“. Ich sage, wir brauchen Verhältnisänderung, damit die Verhaltensänderung leichter fällt. Wir sollten also mit Kritischer Masse („critical mass“) und Volksentscheiden für bessere Radpolitik auf die Straße gehen, wir sollten mit unseren ÖPNV-Betrieben in einen Dialog treten, für bessere Angebote und vor allem für verständlichere und günstige Ticketpreise. Die 365 Euro von Wien sind die Benchmark. Und wir sollten dafür kämpfen, dass kleine Parks erhalten bleiben oder angelegt werden. Wir brauchen Bänke im öffentlichen Raum, zum Ausruhen und als Treffpunkt, wir sollten mit Samenbomben („seedbombs“) unsere Grünflächen bunt machen oder gleich mit Obst und Gemüse bepflanzen wie in der „essbaren Stadt Andernach“. Und, wer regelmäßig in seinem Dorf oder seinem Stadtviertel zu Fuß geht oder mit dem Rad unterwegs ist, wird mehr Menschen kennen und gesünder sein. Professor Ingo Froböse von der Sporthochschule Köln hat mich mit dem einfachen Satz motiviert: „Wenn Sie regelmäßig Rad fahren, können Sie 20 Jahre lang 40 sein.“

Die nationale Politik hat in Deutschland über Jahrzehnte völlig versagt. Bundesverkehrsminister sind Erfüllungsgehilfen der deutschen Autoindustrie. Und halten als solche die Subventionen für die falsche Mobilität hoch. Das Umweltbundesamt ermittelt regelmäßig die umweltschädlichen Geschenke des Staates und wird im Verkehrssektor besonders fündig. 12 Milliarden zahlt die Allgemeinheit alleine für die Begünstigung des Flugverkehrs. 7,4 Milliarden für die geringere Besteuerung von Dieselfahrzeugen und 5,1 Milliarden für die steuerliche Förderung von Dienstwagen.

Weitere 20 Milliarden fließen in den Energiesektor. Damit halten wir Stromgewinnung aus Braunkohle am Laufen. Man kann aber nicht die E-Mobilität als nachhaltig feiern, wenn man gleichzeitig den Strom mit den größten CO2-Schleudern Europas erzeugt.

Die unsägliche grade auch wieder aktuelle Diskussion über ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen zeigt wie tief im 20. Jahrhundert die Politik der Konservativen aber auch der Sozialdemokraten in Deutschland stecken geblieben sind.

Aus der EU kamen in den letzten Jahrzehnten die Grenzwerte, die überhaupt irgendwas in Deutschland in Bewegung gesetzt haben. Erst die Feinstaub- und Stickoxidgrenzwerte der EU haben den Dieselskandal und die Debatte um saubere Atemluft in unseren Städten befördert.

Und die UN sind immer noch, trotz aller Sperrigkeit der COP Verhandlungen, die einzige Institution, die ordnungspolitische Kraft beim Klimaschutz entfaltet. Keine Bewegung nirgends, ohne das 2-Grad-Ziel von Paris.

Aber Europa und die UN leiden an ihren rechtspopulistisch geführten Mitgliedsstaaten, wie Polen, Ungarn, die USA oder Brasilien.

Möchtest Du unseren Lesern noch etwas auf den Weg geben oder uns interessante Apps o.a. empfehlen, die uns den Übergang leichter machen?

Ja, unbedingt. Wir gewinnen die Zukunft nur mit positiver Kommunikation. Wir müssen Bilder entwerfen von wünschenswerten, guten, friedlichen, mit Leidenschaft gewollten Zukünften. Es geht nicht darum, auf das Auto „zu verzichten“. Es geht darum, unseren Kindern, den Älteren und damit auch allen Mittelalten die Autonomie und Freiheit zu geben, sich sicher und mit Spaß in der Stadt oder im Dorf bewegen zu können. Dazu brauchen wir sehr analoge Umgestaltung unserer öffentlichen Plätze und Wege und wir brauchen moderne Technik. Wir sollten neue Antriebe fördern und mehr in Kreisläufen und in geteiltem Besitz denken. Wir sollten als Menschen wieder sozialer werden, auch in der Mobilität. Nicht der mit dem fettesten SUV ist der größte Hecht, sondern der mit dem coolsten Rennrad, mit dem Cargo-Bike für den Kindertransport, mit der Flatrate à la Helsinki auf seinem Smartphone. Wir brauchen dazu keine Zauberei, sondern Politiker und Politikerinnen, die bereit sind, mutig eine progressive Veränderung der Verhältnisse zu gestalten. Wir brauchen nicht nur in der Wirtschaft Menschen, die mit Sinn, oder neudeutsch „purpose“ Konzepte und Pläne entwickeln. Mit Empathie, mit Rücksicht für Schwache und ambitionierten Projekten für die Starken. Wir brauchen eine lokale Politik, die die Stadt oder das Dorf für Menschen denkt, plant und umsetzt. Und, um in der Demokratie damit bestehen zu können, braucht solche Politik, Beteiligung und Kommunikation. Wir müssen reden über die Zukünfte, die wir uns wünschen. Politik muss sich einmischen, aussetzen, den Diskurs führen. Um diesen Diskurs zu initiieren, in der Mediendemokratie Kurs zu halten und so progressive Politik zu guten Ergebnissen zu führen, habe ich tippingpoints unter anderem gegründet. Nur, wenn uns das gelingt, haben wir eine Idee, die wir den zu einfachen, nationalistischen, rassistischen Weltbildern der rechten Populisten entgegensetzen können. Ich will eine andere Stadt, nicht nur einen besseren Radweg von A nach B. Und, wir sollten alle, da wo wir grade sind, beginnen darüber zu reden und entsprechend zu handeln. Dass das enorme Wirkung haben kann, hat uns Greta Thunberg mit einem simplen Pappschild eindrücklich gezeigt.


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